Positionspapier

Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft

10 Thesen

1. Dolmetschen und Übersetzen: Gegenstandsbereich

Die Kommunikation über Ländergrenzen sowie Sprach- und Kulturbarrieren hinweg nimmt nicht nur quantitativ stetig zu, sondern stellt zunehmend wachsende Anforderungen an die Qualität der Sprachmittlung in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur. Dabei ist das Ermöglichen professioneller interkultureller Kommunikation vorrangig die Aufgabe von ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen, die in der wachsenden Komplexität dieser Aufgabe eine Herausforderung für die universitäre Lehre und ihr theoretisches Fundament sehen.

2. Übersetzen und Dolmetschen als interkulturelle Kommunikation

Der Komplexitätszuwachs im Aufgabenbereich der Sprachmittlung zeigt sich vornehmlich in der Erkenntnis, daß nicht nur Sprache, sondern vor allem Kultur übermittelt wird, die im Diskurs und in Texten auf vielerlei Art und Weise zum Ausdruck kommt und daher immer explizit oder implizit (mit)vermittelt wird. Diese Kulturspezifik manifestiert sich in nonverbalen Symbolen beim Dolmetschen ebenso wie in Phraseologismen, morphologisch-syntaktischen Gegebenheiten bis hin zur Textdimension mit ihren kulturspezifischen Diskursmustern und Textstrukturen und umfaßt hier kulturell bedingte Unterschiede in den Makrostrukturen, Bedeutungsebenen, in der Informationsverteilung und den Sequenzierungsmodalitäten. Im Rahmen der Fragestellung von Textfunktion und Textpragmatik spielen die Anpassung an die Wissensvoraussetzungen der zielkulturellen Kommunikationspartner und die Problematik der interkulturellen Fachkommunikation neben anderen Bereichen eine tragende Rolle. Dieser Herausforderung müssen sich die Übersetzungs- und die Dolmetschwissenschaft stellen. Dazu ist es notwendig, für bestimmte, im einzelnen zu definierende Bereiche der Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft Forschungsdesiderate zu entwickeln. Hierzu gehört beispielsweise – um nur einen solcher Forschungsbereiche zu nennen – die Rolle der Kultur beim Übersetzen und Dolmetschen mit dem grundlegenden Desiderat, einen für das Übersetzen und Dolmetschen aussagefähigen und handhabbaren Kulturbegriff zu entwickeln, der zum einen die Diskurs- und Textdimension ganzheitlich berücksichtigt und zum anderen flexibel genug ist, um auch andere Wissenssysteme (z.B. das Fachwissen) und die intrakulturelle Diversität mit einzubeziehen.

3. Wissenschaftliche Grundposition

3.1 Die Gesellschaft für Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft verpflichtet sich zur Anerkennung der allgemeinen methodologischen Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens: der Explizitheit, Systematizität und der Verifizierbarkeit.
Dabei sind Übersetzungs- bzw. DolmetschwissenschaftlerInnen wie alle anderen WissenschaftlerInnen ausschließlich den Grundsätzen ihrer Wissenschaftlichkeit verpflichtet. Für die Angewandte Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft gilt, daß sie die Praxis als Möglichkeit methodischer Eigenprüfung im gegenseitigen Bedingungsverhältnis von Theorie und Praxis mit einbeziehen muß. Das Bedingungsverhältnis erweist sich insbesondere für den Aufbau und die Anwendung der Kompetenzen als wesentlich, die im einzelnen zu erforschen und definieren sind: z.B. die Analyse-Kompetenz, zu der auch Reflexions- und Qualifizierungs-Kompetenz gehören, und zum anderen Transfer- (oder Mittlungs-) und Produktions-Kompetenz. Alle diese Kompetenzbereiche sind einzubetten in eine umfassende wissenschaftliche Kompetenz.

3.2 Die Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft definiert sich aus dem Selbstverständnis des Gegenstandsbereichs heraus. Ihre Fragestellungen beziehen sich dabei originär auf die polysemiotischen (sprachlichen, nicht-sprachlichen, multimedialen, kulturspezifischen) Handlungen der ÜbersetzerInnen und/oder DolmetscherInnen, die in die Rezeptions-, Vermittlungs- und Textreproduktionsprozesse eingebunden sind, sowie auf deren entsprechend komplexe Ergebnisse.

3.3 Es gehört zum Selbstverständnis der Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft, grundsätzlich wertfrei von einem Theorienpluralismus auszugehen. Sie erarbeitet dazu eine eigenständige Theorie- und Modellbildung. Dabei gilt auch hierfür das interdisziplinäre Prinzip von Geben und Nehmen, nach dem einerseits die eigenen Erkenntnisse an die Nachbardisziplinen als Forschungsanregungen und Impulse für neue Wege weitergegeben und andererseits auch die Theorie-Angebote von anderen Disziplinen mit einbezogen werden.

4. Zum Verhältnis von Dolmetsch- und Übersetzungswissenschaft

Dolmetsch- und Übersetzungswissenschaft sind prinzipiell als komplementäre, gleichwertig und gemeinsam zu betrachtende Beziehungsbereiche der Sprach(ver)mittlung zu sehen. Sie repräsentieren Aktivitäten in den beiden fundamentalen Medien der interkulturellen Kommunikation. Beide Teilbereiche verlangen Kompetenzen auf allen Ebenen des Sprachsystems und der Sprachverwendung, beide sind erweiternd gefordert in den pragmatischen Konstellationen bis in die Diskurs-, Text- und die Kulturdimension hinein, beide sind betroffen von der Herausforderung durch die neuen Medien. Beide Teilbereiche widmen sich – ihrem Gegenstandsbereich entsprechend und die Rahmenbedingungen der jeweiligen Kommunikationssituation berücksichtigend – der Theorienbildung: die Dolmetschwissenschaft in ihrer Ausprägung als theoretische, empirische und/oder angewandte Dolmetschwissenschaft mit vielfachen Bezügen u.a. zur Gesprächs- und Gedächtnisforschung und zur Psycho- und Neurolinguistik, die Übersetzungswissenschaft als theoretische, empirische und/oder angewandte Übersetzungswissenschaft mit ihren vielfachen Bezügen zu den Nachbardisziplinen der Kontrastiven Linguistik, der Textlinguistik und Textpragmatik, der Rhetorik und Stilistik, der Literaturwissenschaft sowie den Kommunikations- und Medienwissenschaften. Für beide Teilbereiche gilt die Einheit von Forschung und Lehre als konstitutives universitäres Prinzip.

5. Übersetzen und Dolmetschen: Neue Technologien

Die zunehmende Komplexität der Sprach- und Kulturvermittlung bezieht sich nicht nur auf die Textgestalt (vgl. 2), sondern auch auf die Textgestaltung: Desktop publishing, Layoutgestaltung, Auswahl und Anordnung von Text und Bild weiten z.B. den Kompetenz-und damit den Verantwortungsbereich beim Übersetzen und Dolmetschen beträchtlich aus. Texte werden immer weniger in ihrer Gesamtheit übersetzt bzw. traditionell gedolmetscht, vielmehr nimmt der/die ÜbersetzerIn und Dolmetscher/In zunehmend Einfluß auf die Quantität und Qualität bei der Textgestaltung in Form von Zusammenfassungen (Abstracting), Textadaptationen (z.B. bei Bedienungsanleitungen), dem (bilingualen) ‚technical writing‘ oder der multilingualen Textgenerierung (einmal ganz abgesehen von den Bemühungen um automatische Übersetzung und automatisches Dolmetschen) – um nur einige Einflußbereiche der neuen Technologien zu nennen. Dabei wird es immer wichtiger, die Beziehungen von Ausgangs- und Zieltext und die ihre Gestalt(ung) determinierenden Faktoren (z.B. Zwecksetzung, Textsorte, antizipierter Empfängerkreis) zu erforschen bzw. ihre Wirkungsweise und Interdependenz bewußt zu machen. Der Bereich der neuen Technologien fordert die Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft gleichermaßen heraus: Hier geht es um Grundlagenforschung zur Repräsentation von dialogischem Diskurs und monologischen Texten, u.a. zur Darstellung von Kohärenzprozessen (z.B. bei der Expansion und Kondensation von Texten im Rahmen mehrfach adressierter Texte). Die in diesem Bereich bestehenden Forschungsdesiderate gilt es zu erfassen und zu beheben.

6. Übersetzen und Dolmetschen als intralinguale und intrakulturelle Kommunikationsvermittlung

Als „Textbauexperten“, die vor allem die Regeln und Konventionen ihrer Muttersprache und ihrer eigenkulturellen Kommunikation beherrschen müssen, sind Übersetzer/Innen und Dolmetscher/Innen damit vertraut, Texte zu übertragen, deren Empfänger sehr unterschiedliche kulturelle, intellektuelle und sprachliche Voraussetzungen mitbringen. Daher sind Übersetzer und Dolmetscher prädestiniert, Texte auch intrakulturell so umzusetzen, daß z.B. Fachtexte für Laien verständlich werden (z.B. bei der Erstellung von Software-Handbüchern), und Rohfassungen von Texten stilistisch, gestalterisch und redaktionell so zu verändern, daß sie ihre kommunikative Funktion möglichst optimal erfüllen (z.B. bei der Überarbeitung von Bewerbungsschreiben, Prospekten, Ausstellungskatalogen etc.). Dieser weite Bereich bedarf noch weiterer systematischer Erforschung. Auch hier liegt daher ein Bündel von Forschungsinteressen für die Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft (z.B. die Frage, wie sich die Mehrfachadressierung von Texten (in engem Zusammenhang mit Punkt 5) systematisch in ihren Kohärenzbedingungen, in ihrer Informationsverteilung und -sequenzierung beschreiben läßt).

7. Übersetzen und Dolmetschen in der Fachkommunikation

Das Übersetzen und das Dolmetschen von Fachkommunikation nimmt immer mehr an Bedeutung zu. Dabei ist der Fachlichkeitsgrad der zu übertragenden schriftlichen und mündlichen Texte fast ausnahmslos hoch. In einigen Fällen wird diese Aufgabe daher von spezialisierten FachübersetzerInnen übernommen, die neben ihrer übersetzungs- bzw. dolmetschbezogenen Ausbildung zusätzlich über eine Ausbildung im Fach selbst verfügen. Eine solche Spezialisierung ist jedoch nur in Sprachen mit hohem Auftragsaufkommen für Übersetzer (z.B. Deutsch, Englisch, Französisch) und auch nur für bestimmte Fächer (insbesondere technische Disziplinen) möglich. ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen, die in die oder aus den sogenannten ‚kleineren‘ Sprachen übersetzen und dolmetschen, haben seltener die Möglichkeit, sich zu spezialisieren. Sie sind daher auf methodische Strategien und Vorgehensweisen angewiesen, die sie exemplarisch für die ‚größeren‘ Sprachen erarbeitet haben. Hier liegt daher ein weiteres Forschungsdesiderat der Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft: Die Ausdehnung der (intra- und interkulturellen) Terminologiearbeit auf die Textdimension, die Erfassung, Ermöglichung und Beschreibung eines systematischen Zugriffs auf terminologische Einheiten im Kontext unter Berücksichtigung intertextueller Kohärenzbedingungen (z.B. Möglichkeits- und Ausschlußfelder für Synonymien und Homonymien im Kontext). Dabei ist von einer Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft zu fordern, daß sie die notwendigen Grundlagenerkenntnisse zur Verfügung stellt, auf deren Basis computergestützte Übersetzer- und Dolmetscherhilfen (Translation Memory-Programme, Terminologie-Datenbanken) entwickelt werden können. Weitere Forschungsdesiderate betreffen die Merkmalfindung für fachliche Texte als einer Fachtexttypologie sowie die textlinguistischen, textpragmatischen und kulturbezogenen Analysen von Textsortenkonventionen in der Fachkommunikation.

8. Übersetzen und Dolmetschen an den Hochschulen

Die Hochschulen haben die Aufgabe, das wissenschaftlich-methodische Rüstzeug für den Beruf des/der Übersetzers/In oder Dolmetschers/In zu vermitteln. Die Übung und Erfahrung dagegen vermittelt die Praxis. Die Lehre hat sich um das exemplarische Vorgehen, um das Problembewußtsein und Differenzierungsvermögen für gangbare/nicht gangbare Wege, gute/weniger gute Lösungen im Rahmen übersetzerischer oder dolmetschbezogener Frage-und Problemstellungen zu bemühen. Sie gibt somit wissenschaftlich gewonnene Kriterien an die Hand, nach denen die methodischen Arbeitsweisen, die sprachlich-kulturellenArbeitsbedingungen, die Textbearbeitungsprozesse und die Einschätzung des Ergebnisses (nach)geprüft und (im Rahmen des Möglichen objektiv) bewertet werden können. Dies geschieht in Einheit mit der theoretischen Fundierung, die in diesem Bereich vermittelt wird, also in Einheit mit der Forschung. Die universitäre Lehre hat darüber hinaus auch die Grundlagen für die wissenschaftliche Laufbahn (Promotion, Habilitation) in diesem Bereich zu legen.

9. Wissenschaftliche Vorgehensweise bei der Theorienbildung

Die Entwicklung einer Methodologie des Übersetzens und Dolmetschens ebenso wie die Entwicklung einer Methodik des wissenschaftlichen Arbeitens im Bereich Übersetzen und Dolmetschen bildet ein vorrangiges Forschungsdesiderat für die Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft. Dafür sind zunächst methodologische Grundprinzipien zu entwickeln. Für Arbeiten zur Theorienbildung im Übersetzen und Dolmetschen wird hier – in Ermangelung anderer Methodologien – zunächst tentativ folgende allgemeine inhaltliche Vorgehensweise vorgeschlagen:

9.1 Explikation der Problemstellung (inkl. der Darstellung des Forschungsstandes);
9.2 Legitimation der Problemstellung anhand konkreter Daten (Untersuchungsfeld mit Datenvorgabe);
9.3 Neuentwicklung eines Lösungsansatzes;
9.4 Formulierung des Lösungsansatzes als Theorie oder Modell (eventuell als Computer-Modellierung zwecks Automatisierung bestimmter Teilaufgaben);
9.5 Adäquatheitsprüfung (evtl. in Abgrenzung oder im Vergleich zu anderen Modellen);
9.6 Methodenentwicklung und didaktische Aufbereitung zwecks Verbesserung der Praxis (Anwendungsbereich) und Lehre.

Diese Vorgehensweise ist mit Bezug auf übersetzungs- und dolmetschwissenschaftliche Fragestellungen zu überprüfen bzw. zu verfeinern und gegebenenfalls um die empirische und angewandte Dimension zu erweitern. Darüber hinaus gilt, daß die kritische Auseinandersetzung mit anderen, möglicherweise konkurrierenden wissenschaftlichen Ansätzen Bestandteil wissenschaftlicher Tätigkeit ist. Die wissenschaftliche Kritik sollte jedoch stets nachvollziehbar sein und pauschale Einordnungen oder Etikettierungen vermeiden. Dabei wird zunächst zur Orientierung folgender Kriterienkatalog für die Vorgehensweise zur Kritik von theoriebezogenen Ansätzen vorgeschlagen, der nicht als statisches Korsett, sondern als flexibler Rahmen zu verstehen ist, in dem folgende Kriterien Berücksichtigung finden: Relevanz der Fragestellung, Einführung der verwendeten Begriffe (Explizitheit, Definitionen), Konsistenz des Ansatzes in sich und in seinen Teilen, Vorlegen von nachprüfbarem Daten- bzw. Beispielmaterial, Adäquatheit der vorgelegten Modellierung oder Theorie in bezug auf die vorgelegten Daten und im Sinne der Fragestellung. Gewährleistung der Anschließbarkeit weiterer wissenschaftlicher Forschungsfragen und Analyseschritte. Dieser Kriterienkatalog ist zu überprüfen und gegebenenfalls zu erweitern. Damit soll weder der Weg zum lebendigen Dialog versperrt, noch der Pluralismus der Ansätze eingeschränkt werden (sofern es sich um wissenschaftliche Ansätze zum Übersetzen und Dolmetschen handelt), wohl aber soll der Bezugsbereich der DGÜD auf wissenschaftliche Arbeiten zum Übersetzen und Dolmetschen spezifiziert und ein prinzipieller Rahmen und Bezugspunkt als Orientierungshilfe geschaffen werden.

10. Zum Berufsethos des Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaftlers

Die Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft ist dem Code of Professional Ethics, dem Internationalen Dolmetscherverband (AIIC) sowie den Leitsätzen zum Beruf des Universitätsprofessors des Deutschen Hochschulverbandes verpflichtet.

Saarbrücken, den 15. September 1998